Empfehlungen der Fachgesellschaften und der Bundesärztekammer zum Umgang mit knappen Ressourcen
Für den Umgang mit knappen intensivmedizinischen Ressourcen im Kontext der Covid 19-Pandemie sind mittlerweile Empfehlungen bzw. Richtlinien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erschienen. Allen Texten ist gemeinsam, dass sie eine Priorisierung nach Alter oder nach sozialen Kriterien ablehnen. Für den Fall, dass mehr Patient*innen einen Intensivplatz benötigen, als es freie Plätze gibt, soll nach medizinischen Gesichtspunkten, insbesondere nach den Erfolgsaussichten einer Intensivbehandlung, entschieden werden. Alle Dokumente betonen die Notwendigkeit strukturierter und transparenter Entscheidungsverfahren, einer sorgfältigen Indikationsstellung und Evaluation des Patientenwillens, der palliativen Betreuung von Patient*innen, die nicht (mehr) intensivmedizinisch behandelt werden können, und einer offenen Kommunikation gegenüber den Betroffenen.
Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) et al.: Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen
DIVI et al. Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie.pdf
Aktualisierte 3. Version vom 14.12.2021
https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/040-013l_S1_Zuteilung-intensivmedizinscher-Ressourcen-im-Kontext-der-COVID-19-Pandemie-Klinisch-ethische_Empfehlungen_2021-12_1.pdf
Das in Zusammenarbeit von sieben deutschen medizinischen Fachgesellschaften, darunter auch der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM), erarbeitete Papier empfiehlt eine Priorisierung bei der Vergabe von Intensivplätzen anhand des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht. Im Konfliktfall sollen diejenigen Patient*innen Vorrang erhalten, die „eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose (auch im weiteren Verlauf)“ haben. Dabei müsse zwischen allen Patient*innen mit intensivmedizinischem Behandlungsbedarf – also nicht nur zwischen Covid 19-Patient*innen – priorisiert werden.
Österreichische Gesellschaft für Anaesthesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI): Allokation intensivmedizinischer Ressourcen aus Anlass der Covid-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei Covid-19-PatientInnen (17. März 2020)
https://www.oegari.at/web_files/cms_daten/covid-19_ressourcenallokation_gari-statement_v1.7_final_2020-03-17.pdf
Die österreichischen Empfehlungen sehen eine Priorisierung nur innerhalb der Gruppe von Covid 19-Patient*innen vor und formulieren Kriterien für den Beginn und die Beendigung der Intensivtherapie dieser speziellen Patientengruppe. Für die Entscheidung über den Beginn einer Intensivbehandlung sollen die kurzfristige Überlebensaussicht sowie Komorbiditäten ausschlaggebend sein, über die Beendigung einer Intensivtherapie soll nach den Kriterien Aussichtslosigkeit der medizinischen Behandlung und Verhältnismäßigkeit (auch im Kontext der Gesamtversorgungssituation) entschieden werden.
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW): Covid-19-Pandemie: Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit. Hinweise zur Umsetzung Kapitel 9.3. der SAMW-Richtlinien Intensivmedizinische Massnahmen (2013)
Aktualisierte 4. Version vom 23.09.2021
https://www.samw.ch/de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Intensivmedizin.html
Die Richtlinien definieren ein zweistufiges Modell für Triage-Entscheidungen, das sich an dem Verhältnis von Ressourcen zu Patientenzahlen orientiert (Stufe A: Betten für die Intensivpflege verfügbar, aber begrenzte Kapazitäten; Stufe B: keine verfügbaren Intensivpflegebetten). Die in der Richtlinie für die jeweilige Stufe formulierten Kriterien gelten gleichermaßen für Covid-19-Erkrankte und weitere Patient*innen in der Intensivbehandlung. Als übergeordnetes Entscheidungskriterium dienen die kurzfristige Prognose und Komorbiditäten. Eine Ungleichbehandlung nach Kriterien wie Alter, Geschlecht etc. ist ausgeschlossen, ebenso Kriterien wie „first come, first served“. Besonderer Schutz wird für das Fachpersonal formuliert. Die jeweilige Entscheidung trifft die ranghöchste Person vor Ort.
Bundesärztekammer: Orientierungshilfe zur Allokation medizinischer Ressourcen am Beispiel der SARS-CoV-2-Pandemie im Falle eines Kapazitätsmangels (5. Mai 2020)
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Stellungnahmen/BAEK_Allokationspapier_05052020.pdf
Die Bundesärztekammer stimmt mit den Fachgesellschaften darin überein, dass im Fall notwendiger Priorisierungsentscheidungen bei nicht ausreichenden Ressourcen die klinischen Erfolgsaussichten ausschlaggebend sein sollen. Sie betont dabei besonders, dass Entscheidungen nicht schematisiert oder anhand von starren Algorithmen getroffen werden dürfen. Die Beurteilung der Erfolgsaussicht ergebe sich nicht aus dem Vorliegen einer bestimmten Erkrankung oder Behinderung, sondern aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die im Einzelfall jeweils integriert zu berücksichtigen seien.
Weitere Handlungsempfehlungen
Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP): Handlungsempfehlungen zur Therapie von Patient*innen mit COVID-19 aus palliativmedizinischer Perspektive
Aktualisierte Version vom 29.06.2021
https://www.dgpalliativmedizin.de/images/128-002l_S1_Therapie-von-PatientInnen-mit-COVID-19-aus-palliativmedizinischer-Perspektive_2021-07_1.pdf
Die Empfehlung unterscheidet zwei Bereiche: Die Aufgaben und Rolle der palliativmedizinischen Versorgung in den Strukturen der Akutmedizin (Akutkrankenhaus) und die palliativmedizinische Versorgung im ambulanten und stationären Bereich. Für beide Bereiche ist die individuelle Patientenzentrierung weiterhin zentral, besonders auch bei festgelegter Therapiebegrenzung. Es wird empfohlen, den Umgang mit Vorausverfügungen und deren Umsetzung frühzeitig zu klären. Eine begonnene und indizierte Palliativversorgung soll fortgesetzt und gegebenenfalls modifiziert werden.
Akademie für Ethik in der Medizin (AEM): Diskussionspapier „Pflegeethische Reflexion der Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19“ (12. Mai 2020)
https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/2020_05_12_Pflegeethische_Reflexion_Papier.pdf
Das Diskussionspapier behandelt aus pflegeethischer Perspektive die unterschiedlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie, mit dem Ziel, die Expertise der Pflegeprofession in die fachlichen wie auch gesellschaftlichen Abwägungs- und Entscheidungsprozesse einzuspielen. Die Probleme und Herausforderungen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden differenziert für drei verschiedene Ebenen benannt: für die Ebene der Versorgung der Pflegebedürftigen und des professionellen Auftrags der Pflegenden (Mikroebene), für die institutionelle Organisation der Pflege (Mesoebene) und für den gesellschaftlichen und politischen Rahmen von Pflege (Makroebene). Die daraus abgeleiteten Konsequenzen und Forderungen beziehen sich konkret auf die Situation der Pandemie, formulieren jedoch zugleich grundlegende Bedingungen einer hochwertigen Patientenversorgung und Pflege
Akademie für Ethik in der Medizin (AEM): Möglichkeiten und Grenzen von Ethikberatung im Rahmen der COVID-19-Pandemie (31. März 2020)
https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Handreichung_psychischer_Belastung_15_4__final.pdf
Vor dem Hintergrund der ethischen Fragen und Entscheidungssituationen im Rahmen der Covid-19-Pandemie beschreibt der Text mögliche Aufgaben und Grenzen der Ethikberatungsangebote. Ethikberater*innen können mit ihren Kompetenzen in die Erstellung von Ablaufplänen eingebunden werden. Für Triage-Situationen sind dabei insbesondere ethische Fragen der Allokation zu bedenken sowie Entscheidungs- und Anwendungskriterien zu formulieren. Auf Organisationsebene können alternative Modelle und Formen der Ethikunterstützung entwickelt werden; eine regionale Vernetzung erscheint hier sinnvoll. Hervorgehoben wird, dass Ethikberatung keine Supportangebote zur psychosozialen Unterstützung leistet. Hier wäre auf entsprechende Angebote vor Ort zu verweisen oder deren Etablierung anzuregen. Weiterführende Empfehlungen zur psychosozialen Beratung finden sich unter:
https://aem-online.de/fileadmin/user_upload/HandreichungPsychischeBelastungen2020-03-31.pdf
Stellungnahme des Deutschen Ethikrats
Deutscher Ethikrat: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlungen (27. März 2020)
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf
Die Stellungnahme befasst sich in Abschnitt 3 mit der rechtlichen Seite des Vorenthaltens medizinisch indizierter Maßnahmen. Sie unterscheidet dabei zwischen Situationen, in denen noch Beatmungsplätze frei sind („Ex-ante-Konkurrenz“), und solchen, in denen keine mehr frei sind („Ex-post-Konkurrenz“). In beiden Situationen müssen Ärzt*innen nach Einschätzung des Deutschen Ethikrates keine strafrechtlichen Konsequenzen fürchten, so lange sie nach ethisch begründbaren und transparenten – etwa von medizinischen Fachgesellschaften aufgestellten – Kriterien entscheiden.